In die Zeit und die Geschichte wird ein Mensch hineingeboren. So erblickt Elisabeth Müller das Lebenslicht 1946, einem Zeitpunkt, wo der Begriff „Deutscher“ weltweit als Schimpfwort gilt. Ihr deutscher Großvater war zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Niederlanden sesshaft geworden und ihr als Niederländer eingebürgerter Vater hatte nicht mit der Besatzungsmacht kollaboriert, aber der Umlaut auf dem Familiennamen ist im Grunde ein Stigma. Selbst noch 1955 beschimpft man die Mädchen Müller – während des Umzugs anlässlich des zehnjährigen Befreiungsfests in Meppel (Stadt in der niederländischen Provinz Drenthe) – als „Moffen“, der im Niederländischen gebräuchlichen abwertenden Bezeichnung für Deutsche.
Solche enorm verletzenden Erfahrungen hinterlassen natürlich tiefe Spuren. Kein Wunder, dass Elisabeth sich als Außenstehende empfindet, aber auch angesichts ihrer Herkunft Schuldgefühle hat. Deswegen wird Musik für sie unentbehrlich. Zur unverzichtbaren Überlebensstrategie. Das Klavier disqualifiziert sie nicht, lehnt sie nicht ab. Die Musik: Hier darf sie zumindest wohl mit dazugehören, ob sie nun selbst spielt oder sich sofort nach der Schule das erste Klavierkonzert von Brahms anhört.
Um die ungreifbaren Klänge sozusagen zu komplementieren, legt sie schon früh ein bleibendes Interesse für greifbare eigene Konstruktionen aus Papier an den Tag. Sobald sie Zeit dafür findet, färbt, bastelt, schneidet und faltet sie drauf los, immerfort auf der Suche nach Proportionen und Gleichgewicht. Ein weiterer Zufluchtsort formt die abstrakte und schuldlose Domäne der Mathematik. Das kann sie so gut, dass man in der Schule oft glaubt, sie habe abgeschrieben. Diese Begabung und Liebe für das geometrische Linienspiel hat sie von ihrem als Grafiker ausgebildeten und in der Verlagswelt arbeitenden Vater. Als er ihr als etwa 13-Jährige ein Buch über Mondrian schenkt, löst dies sowohl glückliche Gefühle der Wiedererkennung als auch Verblüffung in ihr aus: Was denn … darf man das auch, ist auch das Kunst? Letztendlich hat dies zur Folge, dass sich Elisabeth 1966 bei der Academie voor Beeldende Vorming (Akademie der bildenden Künste) in der Mondrian-Stadt Amersfoort einschreibt. Für das Konservatorium bleibt noch Zeit genug. Darüber hinaus hat Vater als Bedingung dafür gestellt, sie müsse erst ihre Lehrbefähigung erwerben, um zumindest ihren eigenen Unterhalt bestreiten zu können. Die Amersfoorter Kunstinstitution ist eine vom Bauhausprinzip ausgehende Lehrerausbildung, umfasst also eine breite Palette an Disziplinen. Von der Holz-, Metall- und Papierbearbeitung, Buchbinderei, Bauzeichnung, Goldschmiedekunst, Keramik und Weberei bis hin zu Soziologie, Psychologie, Philosophie und Kunstbetrachtung. Kurzum, Elisabeth erlernt sowohl viele praktische Techniken als auch konzeptuelles Denken. Als angenehme Nebenwirkung wird ihr bewusst, dass sich eine Partitur ebensogut als Konstruktion betrachten lässt. Also beginnt sie auch, Klavierstücke zu analysieren. Eigentlich braucht sie gar nicht mehr zum Konservatorium.
Wissen entwickelt sich aus dem Vergleich einer Wahrnehmung mit der anderen. In der Mathematik lässt sich erst etwas über einen Punkt aussagen, wenn ein anderer Punkt ihm dies zugesteht. So ist Elisabeth schon als Kind fasziniert von dem Unterschied zwischen einem Dreiviertel- und einem Viervierteltakt in der Musik. Nicht nur ist der Rhythmus anders, sondern sie empfindet vermutlich rein intuitiv, dass es hier um ein grundsätzliches Existenzmerkmal geht. Die Diskrepanz zwischen der überraschend eigenwilligen und der regelmäßigen Struktur. Ordnung und Chaos. Apollon und Dionysos. Gegensätze also, die das unentbehrliche Fundament des menschlichen Denkens bilden. Polaritäten, zwischen denen sich Elisabeth selbst auch ständig hin- und herbewegt. Denn gerade ihre Disziplin verbindet sie mit einer Sehnsucht nach spielerischem Ausbrechen. Ohne Notausgang, ohne Flucht wird jedes Muster, jede Struktur zu einem Gefängnis. Den Dreivierteltakt empfindet sie als Synonym für das Ausbrechen. „Die Zahl 3 besteht aus zwei geöffneten Halbkreisen“, erklärt sie. Die 3 ließe sich noch dazu mit aufgeklappten Handschellen vergleichen.
In Elisabeths bildhaftem Werk überträgt sich ihre Faszination für den Unterschied zwischen Dreiviertel- und Viervierteltakt in die Kontemplation mit dem Kreis und dem Viereck. Die gebogene und die gerade Linie. Erstere steht unter anderem für den Tanz, den Raum, das Abenteuer, das Luftige, das Spiel, das Weibliche, das Weiche und den relativierenden Humor. Ohne den Bogen ist die geradlinige Struktur unerträglich, also inakzeptabel. Was nichts an der Bedeutsamkeit der geraden Linie ändert. Wenn die Kultur auch nur eine einzige Waffe im Streit gegen die Tyrannei der Natur, den fortwährenden Nebel von ineinander überfließenden Erscheinungen einsetzt, dann ja wohl die gerade Linie. Daher auch Elisabeths Sehnsucht nach dieser Linie. In ihren frühen Arbeitsheftchen spielt sie Seite für Seite ein Spiel mit Dreiecken. Gleichschenkligen wohlgemerkt, denn das gleichseitige Dreieck leidet unter vollkommener Gleichheit. Nur das Ungleiche, das Disharmonische ist ein spannendes Abenteuer. Als endgültiges Heilmittel gegen die Kraft der geraden Linie, die zugleich eine genetisch bestimmte, tödliche Neigung zur Rigidität in sich birgt, erscheint natürlich auch die gebogene Linie, der Kreis. Die wiederum so beklemmend wirken kann, dass sie das Verlangen nach einer befreienden geraden Linie hervorruft.
Mit Elisabeth auf seinem Schoß sang der Großvater Schubert-Lieder. „Wie war solch eine Schönheit, solch eine bezaubernde Sprache bloß möglich?“, wundert sie sich später oft. Immer wieder diese Ambivalenz; jahrelang empfindet sie den Aufenthalt in Deutschland als problematisch. Schon nach zwei Tagen beschleicht sie solch ein beklemmendes Gefühl, dass sie unbedingt wieder abreisen muss. Dies ändert sich, sobald man in Deutschland, wie in sonst keinem anderen Land, angesichts eigener Untaten, den Blick in den Spiegel wagt. Endlich kann sie sich mit ihrem Großvaterland und dem so reichen, jedoch von den Nazis so entsetzlich besudelten, deutschen kulturellen Erbe versöhnen. Zum Beispiel mit der Literatur von Stefan Zweig und Thomas Mann, in deren Œuvres Musik solch eine wichtige Rolle spielt. Insbesondere in Doktor Faustus (1947), einem Musikroman mit einem Protagonisten, der im Tausch für eine glänzende Karriere als genialer Avantgarde-Komponist seine Seele an den Teufel verkauft. Im Grunde ist Manns Version der alten Faust-Geschichte eine Allegorie auf den Teufelspakt, den das deutsche Volk mit Hitler einging.
Doktor Faustus bewegt Elisabeth so tief in ihrem Innersten, dass er bei ihr eine kreative Kettenreaktion auslöst. Eine Passage, in der ein Vortrag über Beethovens Klaviersonaten Opus 110 und 111 gehalten wird, inspiriert sie so sehr, dass sie beide Stücke einstudiert. Die Erste insbesondere aufgrund des Kontrapunkts und der Fugentechnik, die sie dann an den „Fugenmeister“ erinnert: J.S. Bach. Also traut sie sich erneut an sein Wohltemperiertes Klavier und die Goldberg-Variationen heran: dreißig Variationen zum Thema einer Sarabande, einem alten, langsamen spanischen Tanz im Dreivierteltakt. Dann geschieht es. Plötzlich erkennt Elisabeth, dass die Prinzipien – das Spiegeln, Drehen, Umkehren, Aufteilen, Fragmentieren und Verflechten von Basisfiguren – die sie in ihrem bildhaften Werk einsetzt, in vielerlei Hinsicht mit der variierten Themenwiederholung bei Bach übereinstimmen. Die Entdeckung, dass ihre Zeichnungen, Fotos, Objekte und Gemälde einen vergleichbaren Ausgangspunkt wie Bachs kontrapunktische Umkehrungen und Krebse haben, ist ein freudiger Heureka-Moment. Nie zuvor war ihr solch ein Zusammenhang aufgefallen. Und jetzt scheinen sich Musikerin und Künstlerin in ihr miteinander zu spiegeln, wie eine Melodie und Gegenmelodie. Musikalische Strukturen, die sie sich schon in ihrer frühen Jugend aneignete, haben sich also, und zwar gänzlich unbewusst, immer schon visuell in ihrer Kunst abstrahiert. Alles greift ineinander. „Welch ein Superglücksgefühl. Kein Urlaub auf Bali oder den Bahamas kommt auch nur in die Nähe davon,“ schreibt sie später.
Letztendlich nimmt sie die Idee in Angriff, ebenso viele Gemälde wie Goldberg-Variationen zu schaffen: 30 Bilder von 40 x 40 cm, mit 30 Variationen von sechs Basisfiguren. Um eine Art echografisch umgeformte Schallwellen im Bild oder visuelle Eins-zu-eins-Interpretationen der Musik geht es aber nicht. Wohl um ein Spiel mit einfachen Basisformen, woraus sich immer wieder andere komplexe Muster ergeben, ein Spiel also, das auch die Natur während der Evolution spielt. Das Endresultat ist ein Gesamttableau aus dreißig eng miteinander verbundenen Bildern: 200 cm Breite neben 240 cm Höhe, oder fünf breite Gemälde neben sechs hohen Gemälden. Direkt ins Auge springt die Farblosigkeit des Rasters. Denn die einzigen beiden Farben, mit denen die Bilder aufgebaut wurden – Weiß sowie das aus einer Mischung von Van-Dyck-Braun und Preußisch Blau erhaltene Grau – sind nämlich eigentlich gar keine Farben. Hier geht es also lediglich um verschiedene Tonwerte, und zwar mit unterschiedlichen dunklen und helleren Komponenten, um jegliche weitere Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Formvariationen zu lenken.
Die Suggestion endloser Bewegung ist offenkundig. Keine Form vermittelt einen selbstständigen oder nachhaltigen Eindruck. Als würden wir einen Blick in den Maschinenraum des Seins werfen. Eigentlich sehen wir keine Formen, sondern Prozesse. Kräfte. Alles dreht und wälzt sich, fragmentiert, greift erneut ineinander über, fällt erneut auseinander, wenn auch immer wieder anders. Ungreifbares Licht geht eigene unnachvollziehbare Wege. Sich der Sprache ziellos und bedeutungslos entziehend. Unmoralisch, ohne jegliche Rücksicht auf uns. Unser Fundament ist unmenschlich. Quantenmechanische Willkür. Strukturen, die unser Verlangen nach Halt verspotten. Die Zukunft kann uns niemals beruhigen. Auch wenn wir eine moderne Matrix über die dionysische Natur legen, ihre Metamorphose lässt sich nicht bezwingen. Kein Risikomanagement kann das Schicksal wegrechnen. Aus dem Tiefsten unserer apollinischen Systeme erhebt sich Mutter Nacht immerfort erneut, die diese aus dem Inneren heraus angreift und verscheucht. Eine Kultur, die Bach hervorbringt, trägt ebenfalls das Dämonische in sich und kann somit selbst zu den größten Schrecken führen. Auch Kunst kann niemals absolut sein. So lässt sich makellose Reinheit ebenso gut von einem abscheulichen Monster schwängern. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, warnte Rainer Maria Rilke. Obwohl wir uns die Freude an der Schönheit des Lichts und der Klänge nicht nehmen lassen sollten.
Rogier Ormeling
Vertaling Sigrid Kullmann